Diese zum Teil angewendete Regel in offenen oder polyamoren Beziehungen wird als unterschiedlich sinnvoll eingestuft. Hier schreibe ich warum. Und kleine Triggerwarnung: ich habe eine klare Meinung dazu und äußere die sehr deutlich.
Definition Vetorecht
Ein Vetorecht ist eine Praxis in offenen oder polyamoren Beziehungen und besagt im Grunde, dass innerhalb einer Verbindung alle Beteiligten jederzeit das Recht haben, einem romantischen Kontakt des/der Anderen mit einem „Nein“ zu unterbinden. Wenn also Menschen, die mindestens eine Partnerschaft haben, eine neue Person kennenlernen, an der romantisches Interesse erwacht, besteht die Pflicht, dies mit der Partnerperson zu besprechen, die das Vetorecht hat. Und die darf dann jederzeit ein „Nein“ aussprechen.
Es ist also ein offizielles Bestimmungsrecht über die Sexualität der Anderen, auch der an dieser Beziehung nicht beteiligten Person.
Meine Meinung zum Vetorecht
Und ich muss ja jetzt mal ganz klar und ehrlich und undiplomatisch sagen: da rollen sich mir die Zehennägel auf!
Wir kommen also so weit, dass wir tolerant die Bedürfnisse aller Beteiligten sehen, besprechen und achtsam und wertschätzend ausloten und das durchaus deutlich verhandlungsintensivere Modell einvernehmlich nicht-monogamer Beziehungen einführen, damit alle glücklich werden, und dann vereinbart mensch Gewalt über die sexuelle Lust der Liebsten?
Ich gebe zu, das ist plakatiert, aber ich erlebe es tatsächlich, dass Paare das so ausleben. Ich erlebe es tatsächlich, dass eine Person ohne Angabe von Gründen einfach bestimmt, dass zwei andere Menschen, die sich näher kommen möchten, trotz eigentlich offener Beziehung zum Abstand gezwungen sind. Und ich erlebe es ganz oft, dass dieses Recht einseitig ausgelebt wird und ganz gezielt ohne Diskussion bestimmte Personen einfach verboten werden. Und das diese Person dann auch absolut keine Handlungsmacht hat und über den Prozess im Dunkeln gelassen wird.
Das ist doch absurd.
Wer kommt denn auf so was? Wer glaubt denn tatsächlich, dass es in Ordnung ist, romantische Kontakte außerhalb der Beziehung zu vereinbaren, um dann regelmäßig á la Daumen hoch oder runter caesaesk über das Sexualverhalten meiner wichtigsten Bezugspersonen Macht auszuüben? Und vermutlich fühlt sich mensch dabei noch großzügig, weil er oder sie ja nicht IMMER nein sagt…. Manmanman.
Fleischbeschau für Menschen
Und was ist das denn auch überhaupt für ein Vorgang? Da gibt es einen neuen, spannenden Menschen im gemeinsamen Leben und anstatt offen und wohlwollend auf diese Person zuzugehen, gibt es erstmal eine Art TÜV oder Fleischbeschau, ob mensch überhaupt zugelassen ist… Schrecklich, auch für die dazukommenden Personen. Was ein innerlicher Stress! Als wenn der Anfang einer neuen Beziehung nicht schon genug Aufregung wäre. Wo bleibt denn da die Spannung, das Kribbeln, die Vorfreude, wenn mensch die ganze Zeit Angst vor der Bewertung einer anderen Person haben muss, dessen Gründe vermutlich gar nichts mit ihr zu tun haben, obowhl es sich oft genug ganz genau so anfühlt?
Gründe für Vetorechtsüberlegungen
Ich bin davon überzeugt, jeder Mensch hat gute Gründe für sein Verhalten. Solch eine Regelung ist vermutlich aus Hilflosigkeit oder Angst entstanden und die Idee dahinter gegenseitige Rücksichtnahme und auch ein großes Bedürfnis nach Sicherheit, was ich beides supergut verstehen kann. Ich glaube sogar, dass es wunderbar und sinnvoll ist, sich der Partnerperson im Prozess einer neuen Bekanntschaft anzuvertrauen und zu nähern, diese spannende Beziehungsphase gemeinsam zu erleben und den Selbstbewusstseinsboost für die eigene Beziehung zu nutzen. Auch Unsicherheiten und Eifersucht kann ich so achtsam und mit ausreichend Raum begegnen, schlechte Gefühle begleiten und gemeinsam an der spannenden inneren Entdeckungsreise wachsen. Es macht also durchaus Sinn, in so einer Situation mal zu meiner Partnerperson zu gehen und zu fragen, wie es ihr damit geht.
Vetorecht hat großes Missbrauchspotential
Aber wie häufig ich darauf stoße, dass ein völlig willkürliches und auch sehr einseitiges Veto ohne Verhandlungsspielraum oder auch nur Gründe kommt, macht mich einfach nur wütend. Und ich muss leider sagen, dass ich keine Beziehung kenne, in der eine weiblich gelesene Person solch rücksichtslose Praktiken anwendet. Ich kenne allerdings mindestens drei Beziehungen, in der ER sich schön vergnügt, aber konstant zu jedem Vorschlag IHRERSEITS nein sagt.
Wie zum Geier kann ER sich gut damit fühlen, Gewalt über den Schoß der Person auszuüben, die er liebt?
Und wie zum Geier kann SIE es dauerhaft dulden, ohne eine andere Strategie zu fahren oder zumindest ins Gespräch zu gehen und in den meisten Fällen trotzdem noch dankbar für die „Öffnung“ der Beziehung zu sein???
Hat das etwa wieder mit der unsäglichen tollerHengst/Schlampe-Geschichte zu tun???
Und nochmal meine Meinung
Ja, sind denn alle narrisch g’worn? Nein, so geht das nicht, finde ich. Ich finde, wenn ein Vetorecht explizit vereinbart werden muss, wenn ich also nicht davon ausgehen kann, dass wir ins Gespräch gehen, wenn sich irgendetwas nicht gut anfühlt und kein Vertrauen da ist, dass wir dann wertschätzend miteinander eine für ALLE tragbare Lösung finden, dann hilft die Regel Vetorecht ganz sicher nicht, um die Beziehung angenehmer zu machen.
Ich würde sogar so weit gehen, das Vetorecht abzuschaffen. Allerdings gibt es ja eigentlich für jede Sache, so negativ sie in meinen Augen auch sein mag, jemanden, zu dem sie passt. Und es gibt ja vielleicht auch Menschen, die das Vetorecht nicht ausnutzen. Außerdem hätte ich dann nichts mehr zum Aufregen und ein ordentlicher Rant ist ja manchmal auch sehr befreiend.
Alternativen zum Vetorecht
Allen denen, die neu in dem Bereich sind oder aus anderen Gründen mit dem Gedanken Vetorecht spielen, die sich nicht grade in einer ausgewiesenen D/s-Beziehung befinden, möchte ich raten, sich dagegen zu entscheiden und stattdessen dem gesunden Menschenverstand Raum zu geben.
NATÜRLICH muss ich nicht jede „außereheliche“ Aktivität meiner Partnerperson toll finden. Natürlich kann und sollte ich entscheiden, das mit dieser Person zu thematisieren und mein Verhalten anzupassen, wenn der Zustand mehr als ein kurzer Anflug von Eifersucht ist und es einfach null Compersion gibt. Natürlich sollte keine involvierte Person Etwas den Anderen zuliebe aushalten. Natürlich ist gegenseitige Rücksichtnahme und in Grenzfällen auch ein momentaner oder kompletter Verzicht auf eine bestimmte Person eine Handlungsoption (die dann aber bitte auch nur vorübergehend ist und mit der betreffenden Person auch thematisiert wird).
In jedem Fall sollte aber meiner Meinung nach ein intensiver Austausch stattfinden, um die Wurzel des „Neins“ herauszufinden. Was ist der Grund, dass die negativen Gefühle die Compersion überwiegen? In den seltensten Fällen ist der Grund tatsächlich bei der „neuen“ Person zu suchen, sondern liegt vermutlich in der Ausgangsbeziehung. Und der dem zugrunde liegende Konflikt sollte unbedingt angeschaut werden, wenn alle Beteiligte ein Klima von inniger Verbindung, Vertrauen und Wertschätzung anstreben. Das heißt nicht, dass die Eifersucht dann vergeht. Eifersucht darf sein. Aber sie wird vielleicht ein wenig leichter aushaltbar und ich bin vermutlich der Situation oder der neuen Person gegenüber weitaus zugewandter.
Also nochmal ganz kurz und klar zu dem, was ich am Vetorecht blöd finde
Eine dritte Person taucht auf, Person A findet sie toll, Person B nicht.
Für mich falsch: Person B verbietet Kontakt ohne Angabe von Gründen und ohne Kompromissbereitschaft. Person B hat hier Macht, die ich in einer einvernehmlichen Beziehung zu viel finde. Außerdem fühlt sich die dritte Person vermutlich abgewertet.
Für mich richtig: Person B geht in sich und reflektiert, wo die negativen Gefühle herkommen und was für Handlungsoptionen es gibt. In den wenigen Fällen, in denen eine reflektierte Prozessierung und ein Einfangen dieser Gefühle aktuell nicht möglich ist, äußert B wertschätzend und klar, was los ist und zeigt Handlungsoptionen auf, die dann gemeinsam besprochen werden, im Idealfall mit der dritten Person zusammen. Vielleicht geht es später oder anders oder vielleicht ist Person A dieses Abenteuer auch gar nicht so wichtig.
Und nun der wichtigste Teil: Person A behält hier die Handlungsmacht und SIE entscheidet, ob es trotz der negativen Gefühle einen Kontakt gibt (mit eventuell dann gemeinsam zu tragenden Konsequenzen) oder nicht. Niemand ist hier schuld oder hat etwas falsch gemacht. Das Team Beziehung schaut, was hier für alle Beteiligten die beste Entscheidung ist. Die dritte Person wird evtl. mit ins Boot geholt und es wird transparent über die Gründe gesprochen. Ja, ich weiß, das kann schwer sein und awkward, aber nur, weil wir solche Prozesse nicht gewöhnt sind. Wer datet und Meinungen anderer nicht aushalten kann, darf sich vielleicht erstmal mit dem Selbstwert und dem Umgang von Ablehnung auseinandersetzen.
Tipps zur praktischen Umsetzung des Vetorechts – wenn’s denn unbedingt sein muss…
Für alle die, die das Vetorecht als Sicherheitsnetz brauchen:
- Keine Angst vor solchen Herausforderungen. An ihnen kannst du wachsen und sowohl dich als auch die Beziehung und deine Partnerperson WIRKLICH kennenlernen, eure Verbindung stärken.
- Walk the bridge when you get there. Die meisten Sorgen und Befürchtungen treten nie ein und wenn doch, kannst du immer noch gemeinsam mit deiner Partnerperson eine für ALLE passende Lösung suchen. Hab Vertrauen, du wirst einen Umgang finden.
- Nenn es um Himmelswillen anders, damit gar nicht erst jemensch in die Versuchung kommt, ein „Recht“ über die Anderen ausüben zu wollen. Wie wäre es zum Beispiel mit Mitsprachewunsch oder Offenheitsklausel oder Gemeinsamkeitsentscheidung?
Wichtig ist: Geh ins Gespräch, mit dir selbst, mit allen Betroffenen und auch mit deinem Netzwerk. Wer hatte die Situation schon mal, welche Gründe und Lösungsansätze gibt es? Beschäftige dich mit deiner Haltung zu Eifersucht und Freiheit, mit dem Thema Abgrenzung und mit deinen und euren Ängsten und mit der Beziehung zu dir selbst. Eifersucht darf meiner Meinung nach kein Grund für Gewalt sein.
Stattdessen:
Reflektiert über die Gefühle, die hochkommen!
Fühlt sie erst mal einfach ohne Bewertung. Sie dürfen sein und gehen vorbei, so oder so.
Dafür ist kein Verbot nötigt.
Dafür ist Verbindung und Austausch und Wertschätzung und Raum und Gesehenwerden nötig.
Und wer weiß, vielleicht wandelt es sich dann von Ablehnung zu Polykülerweiterung, von Verbot zu Liebes- und Vertrauensvermehrung oder von Gewalt zu Verständnis.
Wie wäre das?
Deine Meinung würde mich sehr interessieren. Hinterlasse einen Kommentar oder schreib mir.