Sonja Jüngling

ausgeschimpfetes Kind - Beitragsbild für Blogbeitrag Anderssein von Sonja Jüngling

Individuell, frei, selbstbestimmt – Familie frei von Bestrafung und Belohnung

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Inspiriert durch die Blog-Parade von Lena Kamphofer widme ich mich heute mal einem ganze anderen Thema. Wie gehen wir innerhalb unserer Familie miteinander um, was machen wir anders als andere Familien? Mehr vom Umgang mit dem Anderssein erfahrt ihr in den wundervollen, dort verlinkten Artikeln.

 

Anderssein

Anderssein ist ein Thema, dass mich begleitet, seit ich denken kann. Ich habe das nie bewußt gewählt und mir oft gewünscht, einfach in der Menge unterzugehen, dazuzugehören. Gleichzeitig kann ich ja nur mich leben. Alles andere kostet Kraft, fühlt sich unauthentisch und falsch an. Und inzwischen habe ich verstanden, dass es Teil meines Weges ist, Anderssein zu zeigen, Frieden zu machen mit Seiten, die nicht Mainstream sind und die jede Person in sich trägt. Und so erzähle ich inzwischen mit Stolz, dass ich ausgebildete KFZ-Mechanikerin bin, dass wir ein Beziehungskonzept abseits der Norm leben und dass ich versuche, Kinder als kleine Menschen wertschätzend und genau wie meine erwachsenen Beziehungen mit Transparenz und Freiwilligkeit zu behandeln. Ich versuche, eine Beziehung auf Augenhöhe mit ihnen zu haben. Und das heißt natürlich, das ich sie nicht bestrafe, aber auch versuche, nicht zu loben.

 

Was machen wir als Familie anders?

Ich bin in einem sehr autoritären Haus groß geworden. Kinder (drei Mädels) hatten sich unterzuordnen, zu funktionieren, wohl erzogen, bescheiden und im besten Fall unauffällig zu sein. Angepasst. Das teile ich sicher mit vielen vor allem weiblich sozialisierten Menschen. Und ich weiß noch, dass ich schwanger mit  meinem ersten Kind, noch sagte: Klar werde ich mein Kind schlagen, wenn es sich nicht fügt. Es muss ja verstehen, wer das sagen hat. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kräuseln sich mir die Zehennägel. Und natürlich schlage ich nicht. Auf dem Weg, das zu vermeiden bin ich zur gewaltfreien Kommunikation und bedürfnisorientierten Elternschaft gekommen. Und wenn ich diesen Gedanken voll zu Ende denke, kann ich nicht anders als dazu kommen, dass Strafe und Belohnung einfach nur Ausnutzen der elterlichen Macht ist. Ich stelle mich über sie und beurteile und entscheide. Weil ich besser weiß, was sie brauchen. Aber weiß ich das wirklich?

Natürlich muss ich als Elternteil die Führung übernehmen. Es gibt Bereiche, da kann ich nicht meine Kinder entscheiden lassen. Und ich bin auch nicht die Freundin meiner Kinder. Ich muss unpopuläre Entscheidungen treffen, sie durchsetzen und die Reaktionen aushalten. Aber das gilt nur für wenige Bereiche wie Gesundheit, Zukunftsplanung und Sicherheit. Ansonsten bin ich davon überzeugt, dass Kinder sehr wohl im Rahmen ihrer altersabhängigen Möglichkeiten wissen, was gut für sie ist oder funktioniert und was sie wollen. Natürlich kann ein zweijähriger nicht abschätzen, ob er die ganze Tafel Schokolade auf einmal essen sollte. Eine Zehnjährige aber schon. Und ich glaube, Kinder lernen viel besser und nachhaltiger durch Erfahrung als durch Steuerung. Sie werden auch schneller selbstständig, was mir natürlich total entgegen kommt.

 

Beispiel aus unserem Alltag

Es geht auf Weihnachten zu und natürlich bekommen auch meine Kinder einen Adventskalender geschenkt. Meine Tochter ist zehn und ich habe letztes Jahr etwa am zehnten gecheckt, dass ihrer komplett leer ist. Das war auch nicht das erste Mal. Aber ich wollte einfach nichts mehr dagegen unternehmen, auch weil es mir zu anstrengend und zu unwichtig war. Ich habe nicht geschimpft und auch dieses Jahr hat sie einen bekommen, mit dem sie selbst einen Umgang finden kann. Und als sie ihn bekam, hörte ich wie sie zu ihrer Tante sagte, dass sie das die letzten Jahre nicht geschafft hat, ihn so zu nutzen wie es vorgesehen ist, dass sie es aber dieses Jahr mal versuchen will. Und dabei hat sie sich nicht verurteilt, sie hat gelächelt und mich angesehen und einen Witz darüber gemacht, wie gern sie Schokolade isst. Sie meinte, es wäre ja schön, jetzt Tag ein bisschen zu haben. Sie hatte kein schlechtes Gewissen, kein Bedauern, hat sich nicht schlecht gefühlt und vor allem hatten wir beiden eine innige Verbindung in diesem Moment. Hätte ich sie bestraft für die letzten Jahre, wäre dieser Moment und unser beider Gefühle wohl anders ausgefallen. Und ganz ehrlich, muss man sich schlecht fühlen wegen einer bescheuerten Schokoladenverpackung???

 

Wie mache ich es?

Ich möchte hier keine Anleitung geben. Das können Menschen, die sich darauf spezialisiert haben viel besser (zum Beispiel Kathy Weber von der Herzenssache mit ihrem Podcast). Ich nutze die gewaltfreie Kommunikation, die ganz klare und leichte Anleitungen für einen Bedürfniskonflikt gibt. Denn nichts anderes ist es, wenn Eltern ihre Kinder bestrafen. Die wollen etwas anderes als die Kinder. Und sie wollen, dass die Kinder das nachhaltig lernen und sich in Zukunft für die elterliche Sicht entscheiden. Was ich schon per se scheiße finde, denn ich finde es gut, wenn jeder (auch) an sich denkt, auch wenn das für mich als Eltern anstrengend sein kann. Dann ist nämlich für alle gesorgt. Ich möchte die Chance haben, mit den Kindern in den Austausch zu gehen und eine für alle befriedigende und wenn möglich dauerhafte Lösung zu finden. Das schaffe ich, in dem ich die Strategie des Kindes, die mir nicht in den Kram passt, hinterfrage, das Bedürfnis dahinter erkenne, mein Bedürfnis herausfinde und mit dem Kind zusammen schaue, welche Strategie besser passen würde. Und natürlich geht das nicht immer diskussionslos. Kinder (wie Erwachsene) können manchmal erstaunlich kompromisslos und egoistisch sein, vor allem bei Themen wie Essen oder Medien. Aber wenn ich genau weiß, was ich diesbezüglich will, warum ich das will und beides immer wieder klar sage, funktioniert das ohne Androhung von Strafe und die Kinder bekommen noch meine Wertesicht mit, weil ich es begründe. Also zum Beispiel: mach jetzt bitte den Fernseher aus. Deine halbe Stunde ist um und mir ist wichtig, dass du nicht zu viel davor sitzt, weil du dabei nicht merkst, wie angespannt du bist und wie anstrengend das für dich ist und weil ich es wichtig finde, dass du dich auch mit anderen Dingen gern beschäftigst. Natürlich funktioniert das selten ohne Maulen. Wenn ich mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher liege und dann kommt jemand, der mir das wegnimmt, schreie ich meistens auch nicht Juhuu. Aber hinterher bin ich vielleicht dankbar. Und tatsächlich bekomme ich diese Dankbarkeit auch von meinen Kindern. Zumindest manchmal ;).

 

Die Kosten

Natürlich raubt es mir manchmal den letzten Nerv, dass die Kinder nicht einfach anstandslos machen, was ich ihnen sage. Natürlich nervt es mich, wenn ich nicht sagen kann: Du warst respektlos, jetzt hast du eine Woche Stubenarrest. Es kostet manchmal Einiges an Zeit, den Kindern klar zu machen, warum mich etwas stört und was ich mir wünsche und Verständnis zu haben für ihre Sicht der Dinge und meine Fehler dabei einzugestehen und hartnäckig und klar zu sein. Aber egal, wie klein der Anlass ist, es auszudiskutieren lohnt, wenn es wichtig ist. Denn nur so bekommen die Kinder (und auch ich) die Kompetenzen, sich im Leben gewaltfrei durchzusetzen und keine wie immer geartete Macht auszunutzen. Unser ganzes Leben ist bestimmt von Gesellschaft und zwischenmenschlichen Konflikten und inzwischen entscheidet oft nicht wer Macht hat, sondern wer geschickter ist. Daher macht es durchaus Sinn, sich die Zeit zu nehmen und auch unwichtige Sachen auszudiskutieren. Denn da bin ich emotionsloser, was es leichter macht. Dann kann ich verständnisvoll sein, trösten und Lösungen suchen, weil ich nicht angespannt oder blockiert bin. Dann kann ich mir die Zeit nehmen, die das Kind braucht. Und die Schritte sind immer die gleichen (die der GFK). Am Ende löst den Konflikt nicht, wer oder was richtig ist. Es müssen sich alle Beteiligten gehört fühlen und die andere Person sehen und verstehen, dann ich schon fast egal, was am Ende dabei rauskommt. Und der angenehme Nebeneffekt ist echte Verbindung und Vertrauen, dass mein Gegenüber es gut mit mir meint. Aber ja, dazu brauche ich Geduld und Reflexionswillen und auch ein bißchen Übung und Verständnis, für die andere Person und für mich und meine Gefühle.

 

Zweifel begleiten mich

Mir gelingt das nicht immer. Manchmal schreie ich oder bin unfair. Und es fällt mir manchmal schwer, dann Verständnis mit mir zu haben, auch wenn ich weiß, dass auch ich Fehler machen darf. Auch wenn ich weiß, dass das einfach meine Überforderung zeigt. Manchmal scheint es so viel leichter und einfacher, ein Basta auszusprechen und zu entscheiden. Glücklicherweise sind meine Kinder so frei und selbstbestimmt, dass mir das dann auch einfach nicht gelingt. Sie machen es nicht, weil ich es sage. Ich darf sie überzeugen, sie mitnehmen, ihr Bedürfnis hinter der Strategie, die mich manchmal wahnsinnig macht, verstehen und einen Konsent zu finden. Und dabei mich und meine Bedürfnisse nicht immer unterzuordnen, wie ich es gelernt habe. Und das ist manchmal so zäh und so anstrengend. Und wenn ich dann auch noch die Blicke oder das ausgesprochene Unverständnis mitbekomme, dann verunsichert mich das. Und Verunsicherung bringt Unklarheit und Schwanken mit sich. Das spüren die Kinder und dann wird der Konflikt noch schwieriger.

 

Im Kontakt mit Anderen

Denn manchmal ecken wir als Familie damit an. In öffentlichen Räumen spüre ich Verurteilung, auch wenn ich manchmal nicht weiß, ob das alles nur in meinem Kopf ist. Und manchmal machen die anderen Menschen dies sehr offen. Meine Eltern zum Beispiel oder Schwiegereltern können es manchmal nicht fassen, was ich meinen Kindern alles „durchgehen“ lasse. Sie fühlen sich despektierlich behandelt, interpretieren den Drang der Kinder, ihr Bedürfnis zu erfüllen, als Affront oder Unverschämtheit. Auch in Schule oder Kindergarten stoße ich oft auf Unverständnis. Dann bin ich traurig und der Zweifel kommt wieder hoch. Und manchmal sehe ich ganz viel Licht! Eine Lehrerin, die mich mit meiner Strategie bestärkt, andere Eltern, die genauso ergebnisoffen und wertschätzend in einen Konflikt gehen, Elterngruppen und Podcasts, die ganz  konkrete Tipps geben, wie die ein oder andere Situation gelöst werden kann.

Was mir in solchen Situationen hilft: Mich daran erinnern, wie ich dahin gekommen bin, warum ich dies oder das so mache, dass Anderssein nicht immer negativ ist. Vor allem aber hilft mir, die Verbindung zu meinen Kindern zu spüren, wahrzunehmen, dass sie sich mir zumuten, weil sie mir vertrauen. Dann sehe ich, dass wir ganz gute Chancen haben, auch über die Pubertät hinaus ein gutes Verhältnis zu haben, was ganz anders ist, als mit meinen Eltern. Und das gibt mir Kraft und Hoffnung. Und auch mich an die Momente zu erinnern, wo die Kinder so achtsam und entgegenkommend sind, wo sie für meine Rechte einstehen, mit vollem Herzen und voller Liebe zurücktreten, weil sie es für richtig halten, nicht weil sie Angst vor meiner Reaktion haben oder ein Lob brauchen, sondern aus sich heraus.

 

Kinder ernst nehmen und Werte vermitteln

Und das geschieht, weil meine Kinder eigene Werte entwickeln, weil sie ein eigenes Richtig und Falsch für sich entdecken, hoffentlich ganz unabhängig von mir. Und bei diesem Prozess hat mich ganz besonders mich die Frage umgetrieben, wie offen wir unseren Kindern gegenüber unsere Beziehungsform leben. Ich habe wissenschaftliche Paper gewälzt, mich mit Poly-Profis ausgetauscht, bin in mich gegangen, was ich für richtig und falsch halte. Und da stehe ich vor allem in meinem mono-hetero-normativen Umfeld schon recht allein da. Ich werde gefragt, warum Kinder so was wissen müssen, warum ich ihnen das zumute. Mir wird von Überforderung und psychischen Schäden berichtet.

Aber ich weiß genau, meine Kinder sind nicht dumm und sehr feinfühlig. Die merken, wenn ich etwas verheimliche und das hat dann direkt den Anstrich, dass es falsch ist. Und genau dieser offene Umgang, ihre Fragen achtsam und nicht zu offen zu beantworten, sie aber in ihrem Wissensdurst und ihren Sorgen ernst zu nehmen, vermittelt eine Wertschätzung und ein OK-Sein. Es hilft, den Selbstwert zu stärken und so auch mit Herausforderungen abseits der Familie besser klar zu kommen, wo ich dann eben nicht immer da bin, um sie zu unterstützen.

 

Konflikte austragen

Ein weiterer Punkt, der ihnen unheimlich viel fürs Leben mitgibt meiner Meinung nach, ist eben auch zu verhandeln. Konflikte benennen und erklären, warum ich dies oder das jetzt aus elterliche Fürsorge durchsetze, bei der Art der Durchsetzung aber eben nicht kompromisslos bin. Ich will ihre Meinung, will wissen, welche Bedürfnisse in diesem Zusammenhang nicht erfüllt scheinen, will meine Strategie mit zum Beispiel Gesundheitsvorsorge oder Gefahr umzugehen so anpassen, dass sie mitgehen können, sich gesehen fühlen. Dann wird es immer einfacher und der Widerstand immer weniger. Und dafür ist es wichtig, Konflikte zu benennen und so lange darüber im Austausch zu sein, bis sich alle gesehen und gehört fühlen, bis eine für alle gut tragbare Lösung gefunden ist. Das sind Kompetenzen, die ihnen in ihrem kompletten Leben helfen, bei Beziehungen, am Arbeitsplatz, im Kontakt mit Menschen auf der Straße. Denn überall gibt es Konflikte, kleine und große. Und ALLE sind es wert, ausgetragen zu werden, und geben Handwerkszeug und gute Erfahrungen mit, vor Konflikten nicht davonzurennen oder sie runterzuschlucken.

Und das wird nicht passieren, wenn ich strafe. Wenn ihr Antrieb etwas auf eine bestimmte Weise zu tun, mein Lob ist, und sie das auch nicht hinterfragen, wenn ich ihnen eine eigene Meinung vorwerfe oder sie abtrainiere. Viel sinniger ist eine innere Motivation, wenn sie wissen, wofür sie was tun, ihre eigenen Werte kennen.

 

Individuell, frei und selbstbestimmt

Und dann können auch sie so handeln, wie es sich für sie gut anfühlt. Und haben dadurch Energien frei, sich um die wichtigen Probleme ihrer Generation zu kümmern. Sie können dann selbst immer wieder neu frei entscheiden und das stimmt mich sehr freudig. Natürlich weiß ich nicht, ob die Rechnung aufgeht. Aber sie fühlt sich viel besser an als gewaltsam über sie zu urteilen, cäsaesk den Daumen nach oben oder unten zu zeigen, um über ihr Weh und Wohl zu entscheiden. Brr. Allein beim Gedanken gruselt es mich. Ich will doch, dass es meinen Kindern gut geht und mit Strafen funktioniert das nicht. Sonst würden in Amerika keine Menschen mehr erschossen, denn dort gibt es die schlimmste aller Strafen dafür. Da nehme ich lieber in Kauf, dass es manchmal etwas ungemütlich wird. Und in meiner Situation, wohl genährt und ohne wirkliche Bedrohung, zumindest aktuell, ist das finde ich meine Pflicht, diesen Spielraum auszuschöpfen, so lange ich es kann. Und dafür bin ich unglaublich dankbar.

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