Sonja Jüngling

sie oder er oder was? Was sind Neopronomen?

Neopronomen und 6 kleine Merksätze – Wie spreche ich entspannt mit/über/von Menschen ohne ein Geschlecht zuzuweisen und wieso ist das wichtig?

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Medien und die Gesellschaft haben vielen von uns das Bild vermittelt, dass es nur Mann und Frau gibt. Unsere Hirne wünschen sich, dass alles einfach ist. Schwarz oder weiß, am besten nichts dazwischen, leicht erkennbar. 

Die Realität sieht glücklicherweise etwas aus anders aus. Hier hat sich das Konzept der Vielfalt durchgesetzt, das einfach immer und überall erfolgreich ist, wenn es um den Erhalt von Leben geht. Und damit wir das immer und überall entdecken dürfen, brauchen wir eine passende Sprache.  Dazu findest du unten sechs kleine und einfache Merksätze inklusive Neopronomen. Vielleicht hilft es auch dir.

 

Aber zuerst eine kleine Einführung in die Welt der geschlechtlichen Vielfalt

Unser System sah bis vor kurzem zwei Geschlechter vor und war somit binär (von 2). Neben diesen Geschlechtern gibt es (und gab es schon immer) die Menschen, die kein Geschlecht wählen (ich kenn sie als so genannte Non-Binaries, auch nicht-binär* oder genderqueer, zu denen ich vielleicht auch gehören würde, wäre ich nicht echt zu müde für die Diskussionen). Es gibt Menschen, die innerlich oder äußerlich beide oder keine Merkmale der Geschlechter besitzen und sich dazwischen fühlen (ich kenne sie als inter*). Es gibt Menschen, deren zugeordnetes Geschlecht nicht ihrer Identität entspricht (ich kenne sie als trans*) und in folge dessen eine Angleichung vornehmen. Dies kann in der Lebensweise, den Ausweisdokumenten und/oder durch geschlechtsangleichende Maßnahmen wie Operationen oder Hormontherapie passieren. Und es gibt vermutlich noch ganz viel, das ich nicht kenne oder schlicht hier nicht mitgedacht habe. Dafür steht übrigens nicht nur bei mir das *.

Und nur der Vollständigkeit halber: Eine cis Person ist mit dem ihr zugewiesenen Geschlecht mehr oder weniger zufrieden oder hat sich zumindest arrangiert.

All das beschreibt nur die eigene Geschlechtsidentität. Wo der Unterschied zwischen lesbisch bzw. heterosexuell zu gynäkophil ist, erkläre ich vielleicht an anderer Stelle. Mir ist nur wichtig, dass wir hier über das eigene Geschlecht reden, nicht über das, was wir lieben (können oder wollen) oder romantisch/sexuell/leidenschaftlich anziehend finden. 

 

Vielfalt mitdenken

So und weil eben Vielfalt überall herrscht, ist es wichtig, dass diese auch gesehen und mitgedacht wird. Und ich kann sie nur mitdenken und sehen, wenn ich sie auch benennen kann.

Leider beobachte ich immer wieder, dass viele Menschen sprachlich überfordert sind. Und ehrlich gesagt geht es mir manchmal auch so.

Einerseits freue ich mich über diese Überforderung, weil das heißt, dass es was zum Überfordern gibt. Weil vor allem in letzter Zeit viele neue Begriffe aufgetaucht sind, die für den Mainstream ungewohnte Dinge beschreiben. Das heißt natürlich nicht, dass auch die Dinge, über die wir reden möchten, neu sind. Die gab es schon immer. Aber weil keiner drüber geredet hat, wurde den Menschen, die dies betroffen hat, suggeriert sie wären falsch, sie gehörten nicht dazu, wären eine Art Unfall oder schlimmeres, über das mensch einfach nicht redet. Deshalb finde ich es so wichtig, die Sprache anzupassen, damit alle Menschen mit all ihrer wundervollen Diversität gesehen und besprochen werden können.

Andererseits sorgt die Überforderung dafür, dass viele Menschen sich gar nicht mehr trauen, an verschiedenen Stellen den Mund aufzumachen und so einfach verschiedene Bereiche aus ihrer Sprache ausklammern aus lauter Angst in ein Fettnäpfchen zu treten. Das finde ich furchtbar, weil dann die Sichtbarkeit der Vielfalt nicht erhöht wird, die betroffenen Menschen sich weiter falsch fühlen und Überforderung sich auch nicht gut anfühlt. Noch weniger gut fühlt sich die Angst an, etwas falsch zu machen. Und genau hier möchte ich ansetzen.

Ich möchte ganz konkret zeigen wie mit Nicht-Binarität umgegangen werden kann. Kann, wohlgemerkt, denn jede Person kann das halten wie ein Dachdecker. Oder ein/e Dachdecker*in natürlich. Also wie funktioniert integrative Sprache?

 

Sechs kleine Merksätze für mehr geschlechtliche Integration und Neopronomen

  • anstatt „Frau“ oder „Mann“ denke ich „Mensch“
  • Anstatt „er“ oder „sie“ nutze ich den Namen oder eine Abkürzung
  • oder eines der neuen Pronomen hen/hens, dey/dem oder xier/xies
  • anstatt „Mitarbeiter“ nutze ich „Mitarbeitende“
  • Wo das nicht geht, nutze ich *innen (der Stern denkt alle Formen mit)
  • und spreche den Stopp wie in StreuObst

Pronomen sind Worte wie sie, er und es. Die benutze ich also, wenn ich über eine Person oder einen Gegenstand rede. Und weil „es“ eben meist für Gegenstand steht und „er“ und „sie“ aber nicht immer zutrifft, braucht es neue Lösungen. Eine Lösung kann sein, den Namen zu nutzen. Manche mögen es auch, den Anfangsbuchstaben oder eine Abkürzung zu nutzen. Ich kann die Sätze auch so umbauen, dass ich Pronomen vermeide. Oder ich nutze ein so genanntes Neopronomen, also ein Pronomen, dass es bisher in Deutschland noch nicht wirklich gibt. Es gibt schon länger Versuche und Vorschläge: hen/hens aus Skandinavien, dey/dem angelehnt an das englische They oder in Deutschland erfunden xier/xies oder sier/sies. Wir werden sehen, welche Gewohnheit und welches Neopronomen sich durchsetzt. Ich finde hen ja ehrlich gesagt am sympathischsten und ich mag x nicht so gern, aber das ist eine sehr persönliche Sicht. Im Zweifelsfall frage ich die Person einfach, wie es ihr am liebsten ist. In manchen Profilen oder Konferenzen steht es praktischerweise direkt hinterm Namen. Aber Neopronomen sind ja nur ein Aspekt der integrativen Sprache. 

Das ist also mein Weg. Manch andere Person mag es lieber anders und es gibt für alles gute Argumente und Gegenargumente. Wichtig ist mir einfach im Hinterkopf zu haben, dass jede Person das Recht und gute Gründe hat, ihre Wünsche zur Anrede zu äußern und ich mir Mühe gebe, diesem Wunsch nachzukommen, weil ich ja auch will, dass meine Wünsche berücksichtigt werden. Denn Nicht-Cis-Geschlechtlichkeit betrifft deutlich mehr als nur wenige, finde ich.

 

Wieso frage ich mich überhaupt, sind das nicht die totalen Ausnahmen?

Naja, nicht wirklich.

Dazu gibt es sehr unterschiedliche Zahlen, aber das kommt auch drauf an, wo man guckt, wie alt die Menschen sind und ob man Neugeborene oder Erwachsene anschaut. Klar ist auf jeden Fall, dass es das bei jeder Tierart gibt, die sich intergeschlechtlich fortpflanzt und zwar so häufig, dass man das schon weiß. Aber nehmen wir für den Moment mal an, es wären nur 0,1 % der Bevölkerung, also 1 von 1000 Personen ist trans* ODER inter* ODER nicht-binär* (und ich habe für die einzelnen Phänomen schon weitaus höhere Zahlen gesehen), dann wären das immerhin schon 82 000 Menschen allein in Deutschland.

82 000 ist doch nicht wenig! Das ist schon fast eine Großstadt! Wollen wir eine Großstadt von Menschen unglücklich machen und ihr Umfeld gleich mit, denn Ausgrenzung macht erwiesenermaßen physisch und psychisch krank? Und das alles nur weil wir überfordert sind? Ich bin echt eine Freundin davon, die eigenen Grenzen zu achten, aber ganz ehrlich, was ist ein bißchen was Neues lernen gegen das Unglück einer ganzen Großstadt? Ich lerne jeden Tag, da kann ich mir doch sechs kleine Regeln und ein neues Wort anstatt er/sie merken? Naja, mit dem Wort Neopronomen sind es ja schon zwei :).

Ich habe oben geschrieben, „Mensch“ denken. Genau darum geht es. Das ist (mindestens!) eine Großstadt von Menschen, also von Lebewesen wie du und ich, die genau wie ich einfach nur den Wunsch hat, in Frieden und einigermaßen zufrieden leben zu können. Welche Rolle spielt es zum Beispiel in der U-Bahn ob dieser Mensch weiblich oder beruflich dachdeckend oder trans* oder brötchenliebend ist? Genau, gar keine. Deshalb kann ich doch einfach von Menschen ausgehen. Klar, da kommt uns wieder unser Hirn in die Quere. Wir hätten gern so viele einfache Informationen in kurzer Zeit wie möglich. Wenn mir jemensch etwas über einen Menschen erzählt, formt sich in meinem Kopf ein viel unschärferes Bild als wenn ich sage eine trans* Frau.

Aber genau das ist der Punkt.

Denn mit der zweiten Version packe ich diese unschuldige Person in MEINE Schublade rein, in die sie vielleicht gar nicht gehören möchte. Ist das wirklich nötig? Ist es nicht viel netter, offen auf die Person zuzugehen und vor der Geschlechtlichkeit zu entdecken, dass sie total freundlich ist und Käse mag? Ich möchte nicht wegen irgendeiner meiner vielen Randgruppenzugehörigkeiten verurteilt werden und ich bin sicher, das möchte keine Person. Meine Güte, selbst weißer, cis, hetero Mann kann inzwischen eine Beleidigung sein, dabei leben wir im Patriarchat! Das ist doch echt bescheuert. Menschen, wir sind Menschen und wir sollten über uns denken und reden können ohne negativen Beigeschmack.

 

Sechs kleine Merksätze und ein Neopronomen. Sollte doch nicht so schwierig sein, oder? 

Ja, sind nur sechs. Gleichzeitig sind wir Gewohnheitstiere. Da funktioniert das natürlich nicht immer fehlerfrei. Aber meiner Erfahrung nach freuen die meisten sich einfach über den Versuch. Wenn ich durch meine Ausdrucksweise klar mache, dass ich Vielfalt nicht als Irritation sondern als Inspiration nutze, wenn ich durch meine Bemühungen zeige: „Hey, deine Gefühle sind mir wichtig!“, dann werden Fehler sehr freundlich aufgenommen.

Ich verhasple mich oft. Gendere nicht immer und nicht immer korrekt. Ich vergesse nach dem Pronomen zu fragen oder bezeichne eine Person als „sie“, obwohl sie mir eine halbe Stunde vorher von ihrer Non-Binarität erzählt hat. Aber ich bin auch ein Mensch. Und Menschen machen Fehler. Ich darf Fehler machen und ich darf auch benennen, dass das keine Absicht war. Und mir ist dann noch nie etwas anderes als Verständnis und Dankbarkeit entgegen gebracht worden. Klar, gibt auch dort Arschlöcher. Oder besser Menschen, die so viele schlechte Erfahrungen in ihrem Leben gemacht haben, dass sie vor lauter Wundheit einfach nicht besonders empathisch reagieren. Aber ich bin auch nicht immer der entspannte Buddha, der ich gern wäre.

Schwamm drüber, wird schon. Es darf auch mal was nicht perfekt laufen. Durch Fehler lernen wir, lachen vielleicht einmal mehr als ohne und haben unser Hirn einmal mehr davon überzeugt, was wir wollen.

Und wenn wir es immer wieder versuchen, wird es immer einfacher.

Vielfalt wird am ehesten sichtbar und dann toleriert, wenn wir entspannt drüber reden können.

Happy Pride Month!

 

*kleine Anmerkung: trans ist ein Wort, das nicht von allen Menschen, die es laut meiner Definition betrifft, gemocht wird. Innerhalb der trans Gemeinde gibt es verschiedene Bewegungen und manche davon widersprechen sich, ja bekämpfen sich sogar. Das bringt vielen Menschen vermutlich zusätzliche Unsicherheit, weil der Gedanke aufkommt, es nicht richtig oder allen recht machen zu können. Stimmt. Wir können es meistens nicht ALLEN recht machen, denn dafür haben wir alle zu unterschiedliche Wünsche. Gleichzeitig heißt das nicht, dass ich es nicht versuchen darf. Und dabei darf ich vielleicht ein bißchen Verständnis dafür haben, falls jemand mir deshalb unfreundlich begegnet. Denn unsere Gesellschaft geht schon seit Jahrhunderten nicht nett mit Randgruppen um. Und der Unmut darüber kommt manchmal an den falschen Stellen hoch. Das ist vermutlich nicht gegen mich persönlich gerichtet, sondern zeigt einfach nur, wieviel Frust diese Person diesbezüglich vermutlich erlebt hat. Und vielleicht hilft mir dieses Wissen, so einer Situation mit Gelassenheit und Zugewandtheit zu begegnen und einfach freundlich zu fragen, wie es dieser Person lieber wäre.  

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